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Interview

Der Idealist. In 8 Minuten ums Kottbusser Tor.

Wolfgang Schönau interviewt Heinrich von der Haar.

23. Mai 2013 Youtube-Video   Das Interview im Wortlaut:

Wolfgang Schönau: Hallo Heinrich

Heinrich von der Haar: Ja, Wolfgang


Ich freue mich, dich in Kreuzberg zu treffen, da, wo du eigentlich hingehörst ... oder wo dein Roman eigentlich hingehört.

Ja, der erste Teil des Romans und - wo ich auch gewohnt habe.


Die Zuschauer wissen das, dass der Münsterländer Flüchtling, wenn man das mal so sagen darf, hier gelandet ist. Wie fühlt sich das Ankommen in Berlin für den Heiner, den Protagonisten, an?

Er möchte ja die Enge des Münsterlandes eintauschen gegen die Freiheit in der Großstadt ...


Hat er denn das Gefühl, am Anfang schon, dass die Freiheit eintrifft?

Er findet alles neu und ist aufgeregt, nicht mehr die Katholen im Hintergrund zu haben.


Ja?

Das kannst du mir glauben: Dem engen Münsterland zu entfliehen, das ist geil.


Wie war das nun in den siebziger Jahren, in West-Berlin, eingemauert und Bollwerk gegen den Kommunismus?

Der Heiner ist fasziniert von den WG-Genossen. Die fünf, die da zusammen wohnen, stammen alle aus autoritären Elternhäusern, von Nazi-Eltern oder wahnsinnskatholischen Eltern. Und mit denen nach Freiheit zu schnuppern, das fand er toll. Er hasst das ewige Ora-et-labora und die katholische Prügelerziehung und möchte seine Vergangenheit loswerden.


Was hat der junge Münsterländer Heiner denn Besonderes vorzuweisen, in Berlin wimmelte es ja auch von anderen Provinzflüchtlingen?

In der Tat. - Der Heiner kommt vom Bauernhof und ist aufgrund seiner Arbeitserfahrung kein verrückter Spinner. Aber er kämpft verbissen. Verbissen - wie auch sein Vater verbissen um den Hof kämpft.


Ist denn der Idealist, den du da beschreibst, nicht ein bisschen blind?

Blind - mit seiner Arbeitserfahrung? Nein, nein, der ist naiv, aber blind ist er nicht. Er ist hellsichtig und kampfeslustig. Natürlich gehen manche Ideen auch unter, aber bei ihm wachsen neue nach.


Ein hoffnungsloser Träumer?

Hoffnungslos nicht. Träumer werden oft blauäugig, verbohrt oder dumm hingestellt. Viele werten ja auch ihre Träume und Ideale aus der Kindheit als hoffnungslos ab und vergessen sie. Das tut der Heiner mit seiner Wut im Bauch ganz sicher nicht.


Heiner im Roman, Heiner in Berlin, Heiner in Berlin-Kreuzberg: Findet er hier in Kreuzberg im Roman seinen Frieden?

Ein schweres Thema. Er ist mit seinem Vater in Hassliebe verbunden und denkt oft zurück an seine Heimat. Und hat noch die Scham in sich, als Bauernjunge benachteiligt worden zu sein. Was er mit der Muttermilch gesoffen hat, ist schwer, davon loszukommen. Er muss aufpassen, nicht rückfällig zu werden.


Wie belastet ist Heiner von seiner Verwurzelung in der Heimat. Kann er die Vergangenheit neu bewerten?

Heiner ist emotional sehr belastet. Er möchte die Vergangenheit hinter sich lassen, kann das aber nicht so leicht. Er muss dauernd daran zurückdenken.  Sein Durst nach Gerechtigkeit - der ist unstillbar. Und mit seiner Wut im Bauch kommt er immer wieder auf neue Ideen und kämpft.


Was hat dich inspiriert, deinen persönlichen Weg im Roman nachzuzeichnen, und ich denke mal, dein Alter Ego spielt dabei eine große Rolle?

Mein Alter Ego ja, aber es geht nicht um mich persönlich, auch nicht um meine Familie oder um mein Dorf. Ich hatte große Lust, die inneren Wirrnisse eines Revoluzzers in den 70er Jahren nachzuzeichnen, also erlebbar zu machen.


Und - die Nähe zu deiner Hauptfigur - wie hast du die entwickelt?

Na ja, wer versetzt sich schon gern in solch eine schwierige Kindheit eines Bauernjungen aus einem untergehenden Dorf, der von Prügelerziehung und dem ewigen Ora-et-labora gekennzeichnet ist. Ich wollte mich anfangs gar nicht zurückerinnern und ich habe auch Jahrzehnte gebraucht, um mich dem zu widmen. Es war nicht leicht, die emotionale Stabilität dabei zu behalten. Aber ich fand es für mich spannend, die Entwicklung der Rebellion auf die Reihe zu kriegen.


Jetzt stellt sich auf der anderen Seite des Bahnhofs Kottbusser Tor die Frage: Ist der Heiner nicht ein bisschen fanatisch? Oder sogar seinem Vater ziemlich ähnlich?

Das ist er tatsächlich. Allerdings weiß er anfangs nicht, dass er seinem Vater durchaus gleicht. Er bekämpft im Grunde an seinem Vater, was er an sich nicht mag.


Es kommt mir so vor, als hätte der Heiner auch etwas Religiöses.

(lacht) Ja, in gewisser Weise. Sein soziales Engagement für Gerechtigkeit, wie er da demonstriert, auf dem Ku'damm: Das hat schon was Religiöses. Was ist denn religiös? Religiös ist einmal Selbstaufgabe - und das kennt der Heiner gut: sich aufopfern für was Anderes, für ein hohes Ziel. Ja und dann dieses Versprechen: Irgendwann kommt eine Zeit, wo alles besser ist, wo die Welt wirklich sozial gerecht ist - hofft er jedenfalls - so wie wenn Petrus irgendwann die Himmelstür aufmacht.