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Rezension Karin Riedl - Gerhard Riedl - Tom Opitz

Quelle: Rezension Karin Riedl - Gerhard Riedl - Tom Opitz Gerhards Tango-Report

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/06/rikscha-tango.html

 

Donnerstag, Juni 17, 2021


RikschaTango

 

Unter diesem Titel erscheint demnächst ein Tangobuch des Autors Heinrich von der Haar. ... Der promovierte Soziologe und pensionierte Studiendirektor ist literarisch kein Unbekannter: Neben Fachbüchern hat er mehrere Romane verfasst – der bekannteste ist wohl „Mein Himmel brennt“, in dem er die Verhältnisse im Münsterland der 1950er-Jahre schildert. Das Werk trägt autobiografische Züge, da auch von der Haar selber Missbrauchs- und Gewalterfahrungen belasten.

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_von_der_Haar

https://heinrichvonderhaar.de/

 

Als ich das mir zugesandte PDF des Buches überflogen hatte, ahnte ich dunkel, dass die männliche und weibliche Sicht auf das Werk möglicherweise recht verschieden sein könnte. Daher war ich sehr froh, dass meine Ehefrau und Lektorin bereit war, ebenfalls eine Besprechung von „Rikscha Tango“ zu verfassen. Wir unternahmen das ohne Kenntnis der jeweils anderen. Lassen wir also zunächst Karin zu Wort kommen:

Was für’s Herz?


Oskar tut mir leid!

Eine verkrachte Existenz: Geschieden, eine Tochter, die ohne Kontakt zu ihm aufwächst. Seinen Halbbruder Theo, der nach Oskars Meinung ungerechterweise besonders von der Mutter bevorzugt wurde und den Löwenanteil des elterlichen Erbes erhielt, hat er ebenfalls jahrelang nicht gesehen. Kindliche Traumata wegen des Stiefvaters peinigen ihn immer noch.

 

Seine vernachlässigte Wohnung droht ihm wegen Mietrückstands gekündigt zu werden. Rechtzeitig Hartz IV zu beantragen hat er vergessen, der Alkohol, dem er schon entkommen schien, holt ihn immer wieder ein. 60 Jahre ist er nun, ein leichter Bauchansatz zeigt sich, und die Schwächen und Aussetzer seines Herzens hängen wie ein Damoklesschwert über ihm.

 

Wie kommt so einer bloß über die Runden?

 

Nun, mit einer Rikscha kutschiert er in Berlin Touristen herum und verdient sich eine minimale materielle Existenzgrundlage, die ihn vor dem Untergang rettet.

Und – er ist leidenschaftlicher Tangotänzer. Das ist seine seelische Basis. Dabei hilft es, dass seine immer noch blonden Locken und seine tänzerische Versiertheit ihn bei den Damen der Berliner Tangoszene äußerst beliebt machen.

 

Hier darf er sogar wählerisch sein: ungelenke Anfängerinnen und ältere Damen, die vielleicht sein Tanzen kritisch sehen könnten, meidet er lieber.

Seine Favoritinnen sind Katja, Beate und dann – das Nonplusultra einer Frau überhaupt – Sophie.

 

Katja, die ihm sogar Geld zu leihen bereit ist, spendet ihm schöne Momente nicht nur auf dem Parkett, sondern auch beim Après-Tango in ihrer Wohnung. Beate ist zurückhaltender, aber ihre Nähe zu Oskar ist spürbar.

 

Beide werden jedoch zu Randfiguren, als die umwerfende Sophie direkt „aus der fünften Dimension“ aufkreuzt und Oskar eine Zeitlang zu ihrem Prinzgemahl macht.

Und da haben wir sie beieinander: die fürsorgliche Frau, die pragmatische und das Traumgeschöpf, das sich wohl genau deshalb irgendwann verflüchtigen muss.

 

Parallel zu den Frauengestalten erleben wir den spießigen und den machoartigen Männertyp auf dem Tangoparkett. Die Konkurrenz im Gerangel um die Schönen ist gnadenlos. Alles ganz realistisch!

 

Dabei liegt Oskar durchaus gut in diesem Rennen! Vielleicht braucht er mir also gar nicht leid zu tun?

 

Ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer verfolgt er sein Ziel, die schönsten Frauen für sich zu gewinnen.

 

Sein Bestreben ist es, auf dem Parkett zu „wirken“, und er sieht nur Frauen, die ebenfalls „wirken“. Deren Aufmachung ist ausnahmslos von erotisch bezirzender Raffinesse, reizt Oskar in jeder Hinsicht und erhöht seine „Bedeutung“ in der Tangoszene, wenn er sich mit ihnen schmücken darf!

 

Erst am Ende des Buches allerdings wird wirklich deutlich, dass der Erzähler, der in den Details dieser Schönheitenparade geradezu schwelgt, dieser doch kritisch gegenübersteht. Nur die Perspektive des geblendeten Oskar rechtfertigt den Überschwang der Schilderungen.

 

Die Fallhöhe, deren Opfer Oskar wird, ist hoch.

 

Wie er am Boden ankommt, soll hier aber nicht verraten werden. Der Leser möge das durch die Lektüre dieses amüsant geschriebenen Buches erfahren.

 

Heinrich von der Haar verwendet saftige, aber auch zarte Bilder. Selbst wenn manche Handlungszusammenhänge offen bleiben, werden die Figuren richtig lebendig.

 

Der Kenner vieler Tangoszenen, insbesondere derjenigen in Großstädten, weiß, wie realistisch dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten hier dargestellt ist. Und wer beabsichtigt, sich da hinein zu begeben, ist nun ganz gut vorgewarnt.

 

Für’s Herz aber ist die Geschichte allemal – nicht nur für das des Protagonisten Oskar!

 

Soweit Karins Rezension.


Was ich zum Buch meine:

 

Erfreulich ist schon einmal, dass der Tango darin tatsächlich eine große Rolle spielt und nicht nur modisches Beiwerk ist. Und Heinrich von der Haar ist ein Tango-Insider. So beschreibt er ganz viele Tanzszenen, die man so nur kennt, wenn man lange und intensiv auf dem Parkett unterwegs war.

 

Von Erfahrung zeugen auch die immer wieder eingestreuten Tangotitel mit fragmentarischer Übersetzung, die – natürlich passend zur jeweiligen Gefühlslage seiner Hauptfigur – erklingen. Diese und wichtige Tangobegriffe sind am Schluss des Buches in einem Glossar zusammengestellt.

 

Vor allem aber beschreibt der Autor die Verhältnisse – zumindest auf angesagten Großstadtmilongas – wirklich sehr treffend. Für mich wirken sie als Horrorszenario aus Geltungssucht, Eitelkeit und Rangordnungsstreben. Vor allem die Zentralfigur Oskar ist ständig mit der Sortierung und Betreuung seiner Damentruppe beschäftigt. Dabei wird gnadenlos ausgemustert: Nur wenn die Alphafrau nicht verfügbar ist, hat die Beta-Tanguera eine größere Chance. Der Rest hat sich zur Vermeidung von Ausfällen schon mal zur Verfügung zu halten.

 

Das Traurigste daran ist, wie sich die nicht mehr ganz jungen Damen diesem Selektionsprinzip unterwerfen: Nur wer optisch und tänzerisch etwas hermacht sowie auf Annäherungen nicht zimperlich reagiert, hat eine Chance.

 

Ich fürchte, der Autor sieht diese Verhältnisse nicht allzu kritisch, da er sich in süffigen Beschreibungen der äußeren Reize aalt: Frisuren, geschlitzte Röcke, Strumpfbänder, Ausschnitte und glitzernde High Heels bilden einen Schwerpunkt seiner Erzählung. Wenn Oskar dann noch bei jeder Annäherung an eine Tanguera ein jeweils anderes, betäubendes Parfüm in die Nase steigt, sind wir gefährlich nahe am Groschenroman.

 

Gut, unser Held gerät dann an sein weibliches Pendant, welches genauso skrupellos agiert wie er – und holt sich vor lauter Balzerei und enttäuschter Begierde einen Herzkasper. Wie schön, dass es dann blöde Weiber gibt, die ihn betreuen und sein privates Chaos ordnen!

 

Ein wenig ans Klischee grenzt Oskars Familiengeschichte – der Arme hatte selbstverständlich eine unglückliche Kindheit. Und die Figur des schwulen Stiefbruders ermöglicht eine weitere Option, die Geschlechterbeziehungen im Buch nicht zu kurz kommen zu lassen. Zudem hat der die reine und wahre Liebe entdeckt, auf die auch Oskar schließlich zusteuert.

 

Der Schluss ist natürlich ein reines Märchen. Die sattsam bekannten älteren Kavaliere, die auf den Milongas wirklich hinter jedem Rock her sind, ändern sich nach meinem Eindruck nie – man kann auch einen Fleischerhund nicht auf Tofu konditionieren.

 

Dennoch möchte ich das Buch empfehlen. Ich habe selten eine derart kenntnisreiche und detaillierte Beschreibung der heutigen Verhältnisse auf vielen Milongas gelesen. Vor allem aber kann der Autor wirklich gut schreiben. Ich hatte Lust, sein Buch in einem Zug auszulesen.

 

Man sollte aber dem Werk einen Warnhinweis an die Tangueras voranstellen, welche bei Männern nach der Devise „eigentlich ist er ganz anders“ verfahren. Nein: Einen Oskar zu bekommen ist im Tango keine Auszeichnung!


Kommentare

  1. Tom Opitz 17. Juni 2021 um 17:35

    Schöne Ausblicke auf eure Einblicke! ... "Oscars Eskapaden", so hätte ich ihn vielleicht genannt, diesen sensiblen Roman über einen strahlend gewinnenden Verlierer. Es sind ungewöhnliche Einblicke, die uns Heinrich von der Haar da gewährt in die Seele eines beziehungsscheuen alternden Großstadtcowboys auf der Suche nach dem Glück.

     

    Der stets klamme Oskar mit seiner arme Freiheit spendenden Ich-AG als Rikschafahrer durchstreift die Berliner Straßen und Milongas. Kein Star der Tangoszene, aber doch einer, der sich immer wieder Hoffnung machen kann, wenn er denn nur richtig reintritt und mit aller Kraft in die Rollen schlüpft, die sein inneres Kind schon ewig übt. Es ist schon hinreißend mitfühlbar, wenn man ihm auf der Schulter sitzt und in den Gedankenfetzen badet, die dem real mit Selbstzweifeln strampelnden Mann durch den Kopf fliegen, wenn er versucht, seine besten Fassaden durch die Milongas der Stadt zu tragen.

     

    In den literarischen TangoWelten dominieren noch immer die Sehnsüchte der Frauen und die Mächte der Machos. Heinrich von der Haar gewährt uns sensibel tiefe Einblicke in die Verletzlichkeiten des modernen MannSeins und zeigt uns anschaulich und unterhaltsam kurzweilig, wie der sich zwischen all den vertrackten Verlockungen fröhlich freier Frauen mit dem Recht auf "female choice" von Hoffnung nährt ...

  2. Thomas Frick 20. Juni 2021 um 14:13

    Ich kann mir vorstellen, dass der Autor sich über das Prädikat "Groschenroman" ärgert, weil darin ein Hauch von Herabsetzung schwingt, aber sehen wir es mal so herum: gemeint ist sicher nicht die hohe literarische Qualität, sondern ein gewisses Grundgefühl. Die Welt der Tanogspelunken, gebrochenen Herzen und geschniegelten Verführer passt einfach dazu. Ich lese gern mal Groschenromane, in denen eine starke Leidenschaft ausgelebt wird. Bei mir sind es zugegeben eher Weltraumabenteuer, bei Heinrich von der Haar und seinem Oskar das Klammern eines alternden Narzissten an den tröstenden Zauber der Verführung und die Schönheit des Tango, was auch mich bewegt hat. Wenn Groschenroman einfach Mainstream und gute emotionale Unterhaltung bedeutet, bin ich dabei. So wie Brecht fordert, dass jeder Kinobesucher das Recht habe, an seine billigsten Gefühle appellieren zu lassen. Warum nicht! Denn zuweilen großes Gefühlskino ist "RikschaTango", besonders in den opulenten Tanzszenen, wo der Kenner spricht und aus ihm die Leidenschaft. Zu märchenhaft und von mir aus auch billig ist das Finale, in dem unverdient so ziemlich fast alles gut wird, aber warum auch das nicht, in einem flirrenden, swingenden Großstadtmärchen? LeserInnen, die an das Gute glauben, wird es eher freuen.

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