Link zur Seite versenden   Druckansicht öffnen
 

Potsdam Projektladen Drewitz

Aus dem Publikumsgespräch nach der Premierenlesung Der Idealist


Frage: Heiner ist mir exotisch vorgekommen, mit seinem Soziologiestudium nach dem 2. Bildungsweg, der Banklehre und Handelsschule. War Soziologie damals der Zeit geschuldet oder steckte was Anderes dahinter?

 

Heinrich von der Haar: Heiner ist auf der Gerechtigkeitssuche. Früher wollte er Pfarrer werden, Theologie studieren, um dort das Heil zu finden. Nun aber hat er sich der Kirche abgewandt und sucht in der Soziologie ein Verständnis der Verhältnisse und eine Lösung der Gerechtigkeitsfrage.


Frage: Ich dachte, nach seinem Werdegang hätte er doch etwas „Besseres“ verdient.

 

HvdH: Heiner ist durch seine Kindheit traumatisiert. Er hadert mit der Welt und mit sich. Eine Karriere anzustreben, würde er als Verrat an sich empfinden. Er hatte schon als Messdiener und Obermessdiener den Impetus, helfen zu wollen. An einem beruflich verwertbaren Studium liegt ihm nichts. Jetzt muss er das irdische Heil suchen – wie sein zeitweises Idol Che Guevara, von dem er den Spruch im Hinterkopf hat: „Es gibt nur eine Sache, die größer ist als die Liebe zur Freiheit: Der Hass auf die Person, die sie dir wegnimmt.“


Frage: Wie zeigt sich seine Traumatisierung im Studium in Berlin?

HvdH: Er kann sich nicht festlegen, will sich nicht erneut unterordnen. Er geht nicht in eine K-Gruppe, nicht zu den Sannyasins, will sich keiner Ideologie mehr unterordnen. Hat Angst, wieder missbraucht zu werden.


Frage: War das damals nicht die Zeit, wo viele Soziologie, Politologie u. ä. studierten und sich für eine gerechtere Welt interessierten, ohne sich zu fragen, wie es einem hinterher erging? Das habe ich selbst auch erlebt. Zusatzfrage: Steckt dahinter der Wunsch nach Selbstfindung?

HvdH: Ja, auch! Wie findet er sich, seine Identität – gehorsam erzogen, verprügelt worden sein, missbraucht … Er möchte noch von Vater anerkannt werden. Aber wichtig ist: Wie schafft er es, sich selbst anzuerkennen, sich selbst zu lieben, der er in seiner Kindheit wenig Liebe erfahren hat?


Frage: Wie steht es mit seinem inneren Frieden? Kann der Protagonist den überhaupt finden?

HvdH: Heiner, der Protagonist, findet seinen inneren Frieden immer besser, aber es bleibt ein fortwährender, langer Kampf. Der Bauernjunge, der fleißig mithalf, den Hof zu retten, was aber aussichtslos war, und der sich aufgrund der Prügel ungerecht behandelt und gedemütigt fühlte und damit allein geblieben war. Der Junge, der auch gemobbt wurde von den Dorfjungs, als stinkender, nur platt sprechender Bauernjunge, ebenso von den Mädchen, und der sich deswegen schämte. Wie kann so einer, der das alles mit Muttermilch aufgenommen hat, loskommen? Vom erniedrigt und beschämt werden – er fällt wieder und wieder dahin zurück. Er muss immer auf der Hut sein.


Frage: Wie zeigt sich das in Ihrer beruflichen Biografie?

HvdH: Nach meinem Abitur auf dem 2. Bildungsweg lag ein Schwerpunkt meines Soziologiestudiums auf der Untersuchung der Kinderarbeit in Deutschland. Die Kinderarbeit in der Landwirtschaft der 50er/60er/70er Jahre spielte eine bedeutende Rolle. Aufgrund der 1980 erstmals veröffentlichten Studie gab es eine heftige Empörung. Wie kann man die Kleinbauern der Kinderausbeutung bezichtigen? Eltern fühlten sich schlechtgemacht. Ein anderer Punkt betrifft z. B. meine Lehrertätigkeit. In der Berufsschule war mir Chancengerechtigkeit wichtig und lernschwache Auszubildende zu fördern. ...